Über uns hinauswachsen
Als Grüne Abgeordnete für Leipzig und Sachsen schaffte es Dr. Paula Piechotta über die sächsische Landesliste, ihr Bundestagsmandat zu erringen – die Freude ist groß! Mit ihrer Stimme im Bundestag möchte sie in der neuen Bundesregierung mit einem echten Aufbruch beitragen. Sie sagt, dass wir im Jahr 2021 über uns hinauswachsen müssen und legt die zentralen Schwerpunkte ihrer Arbeit auf den Schutz des Klimas, sozialen Zusammenhalt, basiertes Faktenwissen, eine gute Gesundheitspolitik und eine entscheidende Haltung gegen Rechts. Wir trafen uns mit Paula an der Bäckerei Backstein, um über ihre Motivation, politisch aktiv zu werden, ihre inhaltlichen Schwerpunkte, ihre Sicht auf den Wahlkampf und Chancen sowie Aufgaben für die neue Bundesregierung zu sprechen.
Robert und Anne-Katrin im Interview mit Paula Piechotta
Hallo Paula, seit mehr als elf Jahren engagierst du dich für Bündnis 90/Die Grünen. Was gab den Anstoß für dich, politisch aktiv zu werden?
In der Zeit als ich mein Abi gemacht habe, gab es in meiner Familie einen schweren Krankheitsfall und ich musste zu diesem Zeitpunkt Zuhause die Pflege mit übernehmen und habe mit voller Breitseite gesehen, wie Familien im Gesundheitswesen oft alleine gelassen werden. Das war zum einen der Grund, Medizin parallel dazu Molekularmedizin zu studieren und zum anderen, zu sagen, dass alles besser werden muss. Ich wollte eigentlich in keine Partei eintreten und habe mich zuerst der Bundesvertretung der Medizinstudierenden angeschlossen und bei der AIDS-Hilfe vorbeigeschaut. Bei diesen NGOs habe ich schnell gemerkt, dass dort versucht wird, Politik und öffentliche Meinung zu verändern, aber, dass konkrete Veränderungen am Ende meist auch über Parteien laufen müssen. Deswegen habe ich mich ein paar Jahre später für eine Partei entschieden, bei der ich mich am ehesten gesehen habe. So kam ich zur Grünen Jugend und zu Bündnis 90/Die Grünen – nicht unbedingt, weil es dort die beste Gesundheitspolitik gab, sondern weil es die einzige Partei war, die ich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Das Spannende ist: Es gab vorher ein, zwei Themen, für die ich mich interessierte und dann trat ich in die Partei ein – plötzlich gibt es viele Themen, zu denen man diskutieren und eine Meinung haben muss: Das ist so, als ob sich ein Vorhang öffnet. Ich konnte seitdem an vielen Stellen in der Partei an Veränderungen mitwirken: Auf Bundesebene habe ich unsere aktuellen Positionen zur Hebammenversorgung und zum Umgang mit wissenschaftlicher, evidenzbasierter Medizin mitverhandelt, auf Landesebene durfte ich sowohl in Thüringen 2014 als auch in Sachsen 2019 die Koalitionsverträge zu den Themen Gesundheit, Pflege und Drogen mitverhandeln.
Wofür möchtest du dich konkret einsetzen? Was sind deine politischen Schwerpunkte?
Natürlich ist mir als Ärztin die Gesundheitsförderung unglaublich wichtig. Neben der Klimakrise als größter Aufgabe unserer Zeit müssen wir uns auch um unser Gesundheitssystem kümmern: Weil wir nicht allen Patient_innen die beste Versorgung ermöglichen können und die Arbeitsbedingungen oftmals so sind, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die andere gesund machen sollen, selbst krank werden.
Wie unterscheidet sich dein derzeitiger Berufsalltag von deinem Berufsleben als Ärztin?
Bis vor knapp zwei Monaten war ich noch in der Klinik – und werde auch in Zukunft neben meinem Mandat weiter in sehr reduziertem Umfang in der Klinik arbeiten, um direkten Kontakt zwischen den konkreten Baustellen in unserem Gesundheitswesen und Berlin zu wahren. Auf seine gewisse Art und Weise ist der Alltag im Krankenhaus dann doch sehr geregelt und routiniert. Die Arbeit in der Politik ist jeden Tag anders. Der Kontakt zu so vielen unterschiedlichen Menschen bleibt aber ähnlich wie in der Klinik erhalten – egal, ob der ältere Rentner aus Grünau oder die junge Wissenschaftlerin aus der Türkei: So unterschiedliche Menschen begegnen dir in der Klinik als Patientinnen und Patienten, und so unterschiedlich sind auch die Menschen, mit denen man politisch in Austausch kommt.
Seit wenigen Tagen sitzt du als frisch gewählte Abgeordnete im Bundestag für Bündnis 90/Die Grünen. Paula, erzähl uns doch bitte von deinem neuen Alltag.
Am Dienstag nach der Wahl hatten wir gleich unsere erste Fraktionssitzung. Konkret heißt das: Wir waren direkt einen Tag nach der Wahl im Bundestag. Ganz viele waren sehr euphorisch und aufgeregt davon am ersten Tag in Berlin zu sein, während meine Stimmung hingegen etwas gedämpfter war, denn: Von Klimarettung bis zur Modernisierung unseres Rentensystems: Die Aufgaben, die vor uns liegen sind riesig. Die Erwartungshaltung an das, was die neue Bundesregierung leisten muss sind so enorm, dass ich großen Respekt vor den nächsten Jahren habe. Das hat sich auch in meiner Stimmung in den ersten Tagen widergespiegelt.
Sehr spannend. Gibt es schon einen konkreten Arbeitsauftrag für dich?
Wir koordinieren und organisieren uns aktuell – was eine klare Aufgabenverteilung angeht, müssen wir noch die Verteilung der Ministerien abwarten. Dieser Prozess wird noch ein paar Wochen in Anspruch nehmen.
Ein politisches Thema liegt uns auch abseits vom Fahrrad sehr am Herzen. Auch nach der Wahl zeigt sich, dass das Herz von Leipzig wieder grün-rot schlägt. Aber rings um uns herum zeigen sich in Sachsen wieder mal blaue Flecken. Im Land Sachsen hat die AFD klar gewonnen und der CDU die meisten Direktmandate abgenommen. Wir sind nach wie vor das gallische Dorf in Sachsen. Wie ordnen wir diese Entwicklung nach Rechts ein?
Ich glaube, das Bundestagswahlergebnis ist zweischneidig: Wir sehen, dass die AFD im Vergleich von vor vier Jahren nicht groß zulegen konnte. Dass wir jetzt trotzdem noch viel mehr AFD-Direktmandate haben, liegt vor allem daran, dass die CDU so stark verloren hat. Was man auch betrachten muss: Die Konstellation Rot-Rot-Grün lag in Sachsen jenseits jeglicher Mehrheitsfähigkeit. Jetzt haben wir zum ersten Mal eine Bundestagswahl, bei der das linke Lager Prozente als gesamtes Lager gut gemacht hat. Mit Ausblick auf die Landtagswahl sind das aus meiner Sicht nicht nur schlechte Nachrichten. Wo wir aber höllisch aufpassen müssen, sind nächstes Jahr die Landratswahlen. Das betrifft uns als Leipzig jetzt nicht unmittelbar aber wir haben in den vergangenen Monaten gesehen wie wichtig die Landräte sein können. Sie haben super viel Power vor Ort! Denn auch bei Themen wie Coronapolitik oder Verkehrsprojekte wie Radwegeplanung gibt es ganz viele Berührungspunkte mit den Landräten und den Landkreisen – wenn das AFD Landkreise werden, haben wir ein großes Problem. Heißt: Die Landratswahlen müssen wir als demokratische Parteien besonders gut vorbereiten.
Das Stichwort “Radverkehr” fiel bereits. In der heißen Phase zur Bundestagswahl spielte das Thema “Verkehrswende” gefühlt außerhalb einiger Stichpunkte in den Wahlprogrammen kaum eine Rolle. Warum wurde das Thema so wenig besprochen und können wir einen Wandel in Zukunft erwarten?
Aus meiner Sicht war das Thema “Verkehr” im Blickpunkt. Es wurde zum Beispiel immer wieder wiederholt, dass die CSU kein Verkehrsministerium mehr stellen sollte, weil zu wenig Geld in die Schiene und in den Rad- und Fußverkehr geflossen ist und dafür umso mehr in die Straße investiert wurde. Außerdem wurde das Thema “Lastenfahrrad” heiß diskutiert und verhetzt, was ich ebenfalls als sehr problematisch empfand. Ich würde auch sagen, dass in Leipzig die “Verkehrswende” ein sehr wichtiges Thema im Wahlkampf war. Denn, wenn wir über die Klimakrise sprechen, thematisieren wir auch automatisch den Verkehr. Für mich ist Verkehrs ein Baustein auf dem Weg zur Klimaneutralität – dabei denke ich Mobilität als Ganzes, sprich Flug, Auto, Fahrrad, Lastenverkehr, Güterverkehr auf der Schiene aber auch Fahrrad- und Fußgängersicherheit. Das Thema “Mobilität” ist daher meiner Meinung nicht hinten runtergefallen, sondern es wurde als großes Ganzes betrachtet. Aber ich stimme euch in der Betrachtungsweise zu, dass die “Verkehrswende” nicht das größte Thema des Wahlkampfs war – aber das eine bestimmende Thema gab es in diesem Wahlkampf auch nicht. Wir haben im Wahlkampf immer betont, dass Leipzig wächst und mit einem sehr progressiven, mehrheitlichen rot-rot-grünem Stadtrat nach vorn denkt, aber oft an Grenzen stößt, die Bundes-und Landespolitik vorgeben. Wir wollen eine Bundesregierung, die es möglich macht, dass eine Stadt wie Leipzig nicht mehr an ihre Grenzen stößt, sondern, die Fortschritt ermöglicht. Das gilt auch für die Verkehrswende. Wir können noch so viele Pop-up Radwege mit dem Ökolöwen und BUND initiieren und kommen trotzdem an die Grenzen der Straßenverkehrsordnung – das sind Punkte, die wir auf Bundesebene angehen wollen.
Du sprichst es bereits an: Verkomplizieren wir oft mit unserer Bürokratie Prozesse für die Entwicklung eines schnellen und guten Radverkehrs?
Wir haben in Deutschland ein sehr feingliedriges, demokratisches System und auch eine feingliedrige Bürokratie. Wir haben sehr lange Planungsprozesse – es ist ja tatsächlich so, dass wir teilweise Sachen bauen, die wir vor 20 Jahren gebraucht hätten, die aber jetzt gebaut werden, obwohl sich die globale Situation komplett verändert hat. Wir haben ein schwerfälliges System in einigen Bereichen, dass Aktivist_innen oft vor den Kopf stößt. Aber manchmal kann es eben auch sehr schnell gehen – ich denke dabei zum Beispiel an die Pop-up Radwege in den Corona-Monaten.
Kannst du dir vorstellen, dass eine neue Bundesregierung eine Aufbruchstimmung “von oben” mitgeben und die Energie und Bereitschaft von all den “For Future”-Organisationen auf die Straße gebracht werden kann?
Ich glaube, dass eine Bundesregierung im Vergleich zu Landesregierungen oder dem Stadtrat die größte Strahlkraft in die Bevölkerung hinein hat – was eine Bundesregierung macht, wird am ehesten gesehen und dahinter steckt oft die größte finanzielle Power. Heißt, wenn du einen Aufbruch auf der Bundeseben schaffst, dann kann das auch sehr schnell auf Landes- oder Stadtebene gesehen und gespürt werden. Ich glaube, das ist auch der Anspruch für die neue Regierung, die sich auch sehr als Reform- und Aufbruchsregierung versteht: Wir wollen, dass die Menschen den Unterschied mit einer neuen Regierung schnell im Alltag spüren können.
Vielen Dank.