Kolumne: Road Rage
Ein verregneter Vormittag in Frankfurt am Main: Ich stehe mit meinem Leihrad an einer Ampel. Ein von links kommender SUV rauscht noch schnell bei gelb rüber, obwohl sich der Verkehr von der nächsten Ampel her, die ein Stück die Straße runter liegt, schon so weit staut, dass eigentlich kein Platz mehr für ihn ist. Der Fahrer (ein Mann) bleibt daraufhin einfach mitten auf dem Fußgängerüberweg stehen, sodass weder Fußgänger noch Radfahrer an ihm vorbeikommen. Die Fußgänger, die ihn schließlich auf die ihre Grünphase aufmerksam machen, kassieren von ihm einen Mittelfinger und die Grünphase ist auch schnell wieder vorbei, sodass denen, die sich am hartnäckigsten echauffieren bald das Argument fehlt. Dann ist die andere Ampel die Straße runter grün und die Situation löst sich auf.
Nur der Ärger und die Aggression bleiben in diesem Moment. Auch bei mir, der ich auf einem Mietfahrrad sitze und mich maßlos darüber ärgere, dass ich wegen diesem Sonntagsfahrer nicht sofort über die Kreuzung gekommen bin. Am selben Abend bestätigt mir eine Freundin: Die Menschen in der Innenstadt von Frankfurt seien tatsächlich unglaublich aggressiv, besonders die Autofahrer, aus anderen Städten kenne sie das nicht. Aber woher kommt diese Aggression? Experten sind sich völlig uneinig. Beim Verkehrsgerichtstag, bei dem sich traditionell mit wichtigen Themen wie drohenden Dieselfahrverboten oder dem Brandschutz auf Seeschiffen („weltweit eine Herausforderung“) beschäftigt wird, ist man sich einig, dass alles immer schlimmer wird. Wenn ich mir Facebook-Kommentare zu einschlägigen Themen und Artikeln durchlese, dann sind sich auch hier die Leute einig, dass alles immer schlimmer wird, dass aber vor allem die Radfahrer, die Fußgänger oder die Autofahrer (je nachdem, zu welcher Gruppe der Kommentierende gehört) absolut jegliches Maß für Anstand und Sitte im Straßenverkehr verloren haben. Aber woher kommt dieses Gefühl? Es gibt Experten, die sagen, es liege vor allem daran, dass immer mehr Menschen (mit Autos) auf den Straßen unterwegs sind und sich sowas wie Lagerkoller einstellt. Die Nerven liegen blank, weil zu wenig Platz ist. Ob dem tatsächlich so ist, wer weiß das schon. „Über angewandte Aggressionsforschung im Bereich des Straßenverkehrs ist bisher wenig bekannt“, schreiben die beiden Psychologen Philipp Yorck Herzberg und Bernhard Schlag. In einer anderen Studie heißt es dagegen: „Insgesamt kann die Annahme bestätigt werden, dass aggressive Personen häufiger zu einem problematischen Fahrverhalten neigen. Die Zusammenhänge können insbesondere bei jungen Männern als gesichert gelten.“ Aber warum das so ist und ob wirklich alles immer schlimmer wird scheinen auch Psychologinnen nicht beantworten zu können.
Vielleicht hilft ja eine Suche in der Literatur? Mir kommt bei diesem Thema sofort ein Text in den Sinn: „Das hier ist Wasser“ von David Foster Wallace. Eine Abschlussrede, gehalten an einem amerikanischen College. Der Text dreht sich vor allem darum, dass man jeden Moment im Alltag Entscheidungen darüber treffen muss, wie man sich benimmt und was für ein Mensch man sein möchte. Als Radfahrer, als Autofahrerin, an der Kasse im Supermarkt. Und die eine, große Entscheidung sei immer die, ob man sich selbst und seinen Frust und Ärger in einer Situation in den Mittelpunkt stellt, oder nicht. Ein sehr elaboriertes ‚Der Klügere gibt nach‘. Das ist allerdings auch nicht immer einfach. An eben jenem Tag, an dem ich von dem SUV-Fahrer meiner Grünphase beraubt wurde, hatte ich noch ein zweites Erlebnis: von Links zog ein Lieferwagen auf den Fahrradstreifen und legte direkt vor mir eine Vollbremsung hin. Der Fahrer stürzte aus dem Führerhaus, um etwas aus einem der Läden am Straßenrand abzuholen. Ich rief ihm hinterher, ob er verrückt geworden sei, er drehte sich nur um und schrie „Halt’s Maul!“. Vor solchen Momenten, in denen der Ärger durchbricht, ist eben niemand gefeit – auch ich nicht. Für den Moment fühlte ich mich damals wirklich besser, als wenn ich den Ärger runtergeschluckt hätte. Aber objektiv habe ich einen sowieso schon gestressten Menschen auch noch angepampt. Und wer weiß, was der Typ in seinem Lieferwagen transportiert hatte? Vielleicht ja eilige Blutkonserven oder sowas... Der Straßenverkehr ist wahrscheinlich der allerschlechteste Ort dafür, ein besserer Mensch werden zu wollen.
Also ja, vielleicht haben Aggressionen im Straßenverkehr wirklich zugenommen. Und vielleicht haben sie das, weil wir nicht mehr darüber nachdenken, was mit den anderen Leuten los ist, die da noch so unterwegs sind. Als Radfahrer, der relativ ungeschützt zwischen den wuchtigen Straßenpanzern navigieren muss, ist man vielleicht sogar besonders empfindlich dafür, weil man keine Knautschzonen und – Hövding hin oder her – keine Airbags hat, die im Zweifel das eigene Leben retten können. Klar ist es da ist nicht immer einfach, zwischen all den Irren in ihren Autos die Nerven zu behalten. Vor allem, weil man als Radfahrer oft selbst beschimpft, angehupt und beleidigt wird. Wenn sie einen mit Absicht schneiden oder grundlos anhupen, sodass man sich erschrickt, wie das vor allem mittelalte Männer gerne mal machen. Natürlich muss man sich da aber auch die Frage stellen, warum man eigentlich immer der Klügere sein soll, der nachgibt, wenn es sich so viel besser anfühlt, zurückzuschlagen, genauso fies und aggressiv zu sein. „Rache ist süß“ ist ein sehr wahres Sprichwort. Aber so wird man halt dann leider auch Teil des Problems.