Kolumne: Wer weiß denn sowas?
Radwegbenutzungspflicht, Radstreifen, Sicherheitsabstand, Fahrradstraßen und das 9-Euro-Ticket – unser Kolumnist Gerald ist unterwegs im Regel-Dschungel und gibt Antworten auf alltägliche, aber doch sehr wichtige Fragen zu den Regeln der Straßenverkehrsordnung. Doch bei allem Frust, der sich an der ein oder anderen Stelle einstellt, wenn Regeln verletzt werden, empfiehlt er das Prinzip der Risikovermeidung: Augen auf im Straßenverkehr und ab und an mehr Gelassenheit.
von Gerald Biehl
Wenn im TV-Format „Wer weiß denn sowas“ skurrile Fragen aus Wissenschaft und Alltag in den Raum gestellt werden und nach kurzweiligen Grübeleien überraschende Antworten gefunden sind, hat das für alle Beteiligten oft einen oft erhellenden Mehrwert. Warum sind Bienenwaben sechseckig, wieso heißt die Festplatte "C" und warum schließen Frösche beim Schlucken die Augen? Die Antworten auf derlei banale und doch groteske Alltäglichkeiten verblüffen oft.
Die Frage “Warum müssen Radfahrende parkende Autos mit einem Sicherheitsabstand von einem Meter passieren?” ist da vergleichsweise simpel, wird aber häufig erst verinnerlicht, wenn der Schlüsselbeinbruch vom Abgang über die plötzlich geöffnete Autotür irgendwann verheilt ist und die Sinne sich schärfen, um so einem Dilemma künftig auszuweichen.
Zugegeben: Radfahren, streng nach den Regeln der Straßenverkehrsordnung gepaart mit den Kriterien Vernunft, Voraussicht und Rücksichtnahme, ist in der velophilen Praxis nicht so verbreitet, wie man das annehmen müsste. Radfahrende haben oft unterschiedliche Auslegungen von Regeln und Vorschriften parat und Autofahrer*innen sowieso.
Ein Klassiker ist die Radwegbenutzungspflicht, die Autofahrer*innen regelmäßig zu Hupkonzerten und wilden Fingerzeigen veranlasst. Dabei ist das doch ganz klar geregelt: Wo kein Radweg-Schild (Zeichen 237 der StVO) ist, muss auch kein Radweg benutzt werden. Wer Stress vermeiden will, nimmt trotzdem den Radweg, wenn er benutzer*innenfreundlich ausgebaut und ohne Kennzeichnung als Nebenweg deklariert ist, der befahren werden kann, aber nicht muss. Die Radfahrzeichen, die eine gemeinsame Benutzung von Fußgängern und Radfahrenden auf einem Weg vorschreiben (Zeichen 240 und 241 der StVO) sind allerdings zu respektieren. Auf Fußgänger*innen ist dann allerdings vermehrt Rücksicht zu nehmen. Sonst gilt, dass die Straße auch nebeneinander befahren werden kann, wenn der Nachfolgeverkehr dadurch nicht beeinflusst wird. Das hat die letzte Novellierung der Straßenverkehrsordnung in § 2, Absatz 4 klar geregelt.
Klar geregelt ist auch das Fahren auf Radstreifen: Bei durchgezogener Linie haben Autos dort nichts zu suchen. Mit einer gestrichelten Linie sind Schutzstreifen markiert, die Autofahrende nur dann befahren dürfen, wenn Radfahrende nicht gefährdet werden. Leider häufig anzutreffen: Rennradfahrende lehnen die Benutzung von markierten Radwegen ab und pedalieren trotzig auf der Straße. Das ist in meinen Augen arrogant und nicht nachvollziehbar. Einzig das Fahren in einer Gruppe von mindestens 15 Beteiligten rechtfertigt, dass kein Radweg benutzt werden muss.
Ein Sonderthema ist die Fahrradstraße, gekennzeichnet durch ein Radfahrzeichen mit dem gleichnamigen Untertitel. Hier lässt es sich gemütlich radeln und der Autoverkehr, wenn er überhaupt – wiederum durch einen Untertitel – zugelassen ist, muss sich fügen. Das betrifft die gesamte Fahrbahnbreite! Generell gilt dann eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Eine Studie ergab, dass Autofahrende in der überwiegenden Zahl nichts mit dem Verkehrsschild Fahrradstraße anfangen können. Leider.
Mit einer anderen Regelung, die in der letzten Novellierung der Straßenverkehrsordnung getroffen wurde, steht ein überwiegender Teil der automobilen Szene offensichtlich dauerhaft auf Kriegsfuß. Da sind wir bei dem schönen Thema Abstandsregelung. Geschrieben steht, dass Radfahrende innerorts mit 1,50 Meter und außerorts mit 2,00 Meter Abstand überholt werden dürfen oder müssen. Wenn ich über die Einhaltung dieser Regel Buch führen würde, käme ich aus eigener Erfahrung auf etwa 80 Prozent Missachtungen. Unschön und dazu gefährlich ist es, wenn zwischen dem rechten Außenspiegel eines Autos und dem Fahrradlenker gerade mal noch ein Blatt Papier passt. Die Ahndung von solchen Verstößen existiert praktisch nicht, außer es kommt zu einem bösen Unfall, der dann rekonstruiert werden muss und zu dem Zeugen Aussagen treffen können.
Ach ja, die Welt der Regeln! Da die Radfahrenden im Verkehrsgetriebe eine sehr verwundbare Spezies darstellen, empfehle ich – bei allem Frust, der sich einstellt, wenn Regeln verletzt werden – das Prinzip der Risikovermeidung: Augen auf im Straßenverkehr. Der Spruch ist mir aus der frühkindlichen Verkehrserziehung in dauerhafter Erinnerung. Und weil ich eingangs erwähnte, dass in der Ratesendung unter anderen die Frage gestellt wurde, warum Bienenwaben sechseckig sind, will ich die akademische Antwort nicht schuldig bleiben: Sechsecke entstehen in der unbelebten und in der belebten Welt überall da, wo gleichverteilte Kraftquellen gegeneinander wirken. Die innere mechanische Spannung der Wabenwände zieht das geschmeidig gewordene Wachs so zurecht, dass jede der dicht gepackten Zylinder-Zellen sechs gerade Wände ausbildet.
Da in der belebten Welt der Radfahrenden keine Sechsecke entstehen können, weil in diesem Kosmos nicht gleichverteilte Kraftquellen gegeneinander wirken, sondern die Verteilung der Kräfte zwischen Autofahrenden, Fußgänger*innen und Radfahrenden höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, empfehle ich Gelassenheit und so viel gesundes Selbstbewusstsein im Sattel, dass ihr entspannt und unfallfrei durch den heißen Sommer kommt.
Off Topic: Etwas andere Regelwerke sind diejenigen von ÖPNV, Deutscher Bahn und diversen Verkehrsverbünden. Da das 9-Euro-Ticket noch den ganzen Sommer zu ungeahnten Ausflügen verleitet, empfiehlt sich ein Blick in die Mitnahmebedingungen das Velo betreffend. Deutsche lieben eben komplizierte Tarifstrukturen!