Kolumne: Rotsünder

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Hand aufs Herz: Sind wir nicht alle schon mal bei Rot über die Ampel geradelt? Weil wir‘s eilig hatten und zu faul waren nochmal anzuhalten? Oder weil wir sie übersehen haben? Diese Frage kann sich jeder nur selbst beantworten. Wenn wir intensiver darüber nachdenken, wird sicherlich schnell klar, dass uns so ein Verhalten nicht nur teuer zu stehen kommen, sondern richtig gefährlich werden kann. Was also bewegt die Radler_innen unter uns, eine rote Ampel zu überfahren? Warum scheint die Hemmschwelle zu sinken, sobald wir auf dem Sattel sitzen? Diesen Fragen bin ich in einer Beobachtungsstudie nachgegangen. Die Eindrücke, die ich daraus gewinnen konnte, waren sehr verblüffend...

Es ist ein heißer Samstagnachmittag im Juni. Ich sitze draußen vor der Wendl Bäckerei in der Karl-Liebknecht-Straße. An meinem doppelten Espresso nippend, beobachte ich das Verkehrsgeschehen. An so einer großen Kreuzung gibt es viel Unterhaltsames zu entdecken. Da hasten Menschen über die gerade rot werdende Ampel, um noch schnell die losfahrende Straßenbahn zu erwischen. Im gleichen Moment, erschallt ein Martinshorn so laut, dass einem das Hören vergeht. Und sobald die Bimmel losgefahren ist, radelt noch fix ein Herr über das rote Lichtsignal, als wäre es das Normalste auf der Welt. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich schier aus den Socken haut...

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Wie sich bald herausstellt, ist er nicht der einzige, der während der Stunde, die ich im Café zubringe, über die rote Ampel fährt. Von entschlossen über gelassen bis gleichgültig wirken die Verkehrssünder_innen auf mich, wie sie über die rote Fußgängerampel fahren, kurz nach links und rechts schauen und dann - nichts wie hinüber, bloß nicht aufhalten lassen - bei Rot über die Autoampel weiterziehen. An dieser Kreuzung mag die Signalanlage für das Fußvolk vielleicht fünf Sekunden früher auf Grün schalten, als die Autoampel. Aber, wenn es darum geht, fünf Sekunden schneller am Ziel zu sein, dann beschleicht mich das Gefühl, ist vielen Radler_innen die rote Ampel einfach nur lästig. Dann wird diese schlichtweg ignoriert. Oder sie scheint für Lieferdienst-Radler gar nicht zu existieren. Denn der Lieferando-Fahrer radelt ganz lässig und absichtlich über Rot.

Gedankenkarussell. Der Versuch, eine Erklärung für dieses Verhalten zu finden. Dennoch frage ich mich, was die unter Zeitdruck fahrenden Radler_innen dazu bewegt, über Rot zu fahren, und ca. zwei Meter weiter trotzdem zu stoppen, da die Ampelmännchen ebenfalls noch Rot leuchten. Kommt man tatsächlich schneller über die Kreuzung, wenn man sich für die fünf Sekunden früher grün werdende Fußgängerampel entscheidet? Ich persönlich mag das bezweifeln. Was wiederum bewegt die Leute über die rote Autoampel zu fahren, die es gar nicht so eilig haben? Eben, wie der ältere Herr mit den großen Gepäckstücken am Fahrradlenker baumelnd. Dieser überquert mit fast schon stoischer Ruhe und Gelassenheit, wie ein Jaywalker die Kreuzung, dass ich mir denke, er steht unter Drogen. Mir ist fast Angst und Bange um ihn, da die Fußgängerampeln immer noch Rot zeigen. Er aber keinerlei Anstalten macht, seine Geschwindigkeit innerhalb der Gefahrenzone anzupassen. In diesem Moment mag ich mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können… Ein Gefühl von Erleichterung: Er hat es unversehrt auf die andere Seite der Kreuzung geschafft. Genauso wie die vier anderen Radler_innen, welche es ihm nachahmen. Der ungeschlagene Klassiker unter den roten Ampeln erscheint mir, die Fußgängerampel zu sein. Das Überqueren einer Fußgängerampel bei Rot avanciert in kürzester Zeit zu einer sehr beliebten Alternative, um schnellstmöglich auf die gegenüberliegende Straßenseite zu gelangen. Kurzer Blick nach links. Kurzer Blick nach rechts. Freie Fahrt. Nichts wie rüber. Während meiner Beobachtung kann ich neun Radler_innen zählen, die das rote Ampelmännchen bewusst übersehen.

Ich selbst habe mich auch schon oft über Ampeln geärgert, deren Rotphase viel zu lang erscheint. Aber muss man an so einer gefährlichen Kreuzung wirklich zum Kampfradler mutieren? Auch wenn man es berufsbedingt sehr eilig hat, sollte einen der gesunde Menschenverstand immer daran erinnern, dass rote Ampeln an einer schwer einsehbaren Kreuzung einem bestimmten Zweck dienen: Den Verkehr zu regeln. Möglichst Unfälle mit Todesfolge zu vermeiden. Wenn man der Sendung „Achtung Kontrolle!“ auf Kabel Eins Glauben schenken darf, dann ist jedes zweite Unfallopfer in Dresden ein Radfahrer. Sollte uns das nicht wachrütteln?  

Bei all den Gedanken, die mir bei der Beobachtung dieses Spektakels gekommen sind, kann ich mir nicht erklären, weshalb manche Radler_innen nicht nur ein Bußgeld von mindestens 60 Euro, sowie einen Punkt in Flensburg (ungeachtet des Besitzes eines Führerscheins), sondern auch Kopf und Kragen riskierten. Warum scheinen die Leute zu glauben, sich im Straßenverkehr sicherer bewegen zu können als Autofahrer_innen? Dabei müssten sie doch genau das Gegenteil annehmen. Schließlich hat noch keiner einen Airbag für das Fahrrad erfunden. Unfälle mit Radler_innen nehmen viel häufiger einen tödlichen Ausgang. Aber für die Radfahrer_innen, die ich beobachten konnte, schien das Wort Gefahr eher ein Fremdwort. Das Risiko ein Bußgeld zu kassieren ist anscheinend zu gering. Ihre Selbstsicherheit verlieh ihnen sprichwörtlich Flügel. Wo meinesgleichen brav an der roten Ampel warten würde, „schwebten“ die selbstbewussten Radler_innen über die Kreuzung. Doch sollten wir bei all dem Nervenkitzel und dem Gefühl der Sicherheit, in der wir uns wägen, nicht vergessen, dass wir nicht allein im Straßenverkehr unterwegs sind? Ich sage: Ja! Wir sollten niemals den Glauben an diese eine „grüne Welle“ verlieren, auch wenn wir öfter mal rotsehen.